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Touki Bouki meets Pirate Cinema?
Über zweieinviertel Minuten hinweg laufen Zebu-Rinder auf die Kamera zu, auf das Publikum also. Eine endlose Zeit ist das im modernen Kino, wo ganze Expositionen Platz haben: alltägliches Leben irgendwo, dann der Einbruch von etwas, das diesen Alltag durcheinanderbringt: ein Unfall, eine Begegnung, ein Mord vielleicht. Manche reden von der Ökonomie der Zeit. Das Publikum wolle schnell an die Hand genommen werden. Wir aber befinden uns im afrikanischen Kino. Und wie im afrikanischen Alltag gilt auch für den afrikanischen Film ein anderer Zeitbegriff. Zweieinviertel Minuten also laufen die Zebus, durch eine Savannenlandschaft getrieben von einem kindlichen Hirten, auf uns zu, während dessen einige Titel des Vorspanns zu sehen sind. Das ist schon Zeit genug, um sich Gedanken zu machen über den Film, der auf der Leinwand gerade begonnen hat. Aber noch während sich im Kopf Bilder über Dörfer und Baobabs, über Dorfälteste und Hirse stampfende Frauen zusammensetzen, irritieren die Manipulationen an der Tonspur. Überproportional laut werden die Töne aus den Kehlen der Tiere, ihr Lärm wächst schneller als sich die Distanz zwischen ihnen und uns verringert. Nach zweieinviertel Minuten führt ein Schnitt in ein Schlachthaus. Ein Rind torkelt auf blutigem Boden, wird dann mit einem Lasso zu Fall gebracht und mit einem tiefen Schnitt in die Kehle getötet. Der Rest der Herde schaut dabei irritiert zu. Der Leib wird gehäutet und aufgehängt. Dann ist der Hirtenjunge auf dem Rückweg zu sehen, im Off schwillt der Sound eines Motorrads an. Zuletzt rast dieses Motorrad durch die Vorstädte von Dakar, der Lenker ist das Horn eines Zebus. Die Leinwand gibt beinah die Perspektive des Fahrers preis (es ist Mory, der Hirtenjunge, einige Jahre später) mit der Kamera, die gleichzeitig auf der Schulter des Kameramannes George Bracher und der des Fahrers liegt. Das Motorrad erreicht eine geteerte Piste, die Kamera öffnet endlich das Bild und zeigt Mory von hinten, wie er auf der vierspurigen Schnellstraße ins Zentrum davon rast. Auf der Totalen endet der Vorspann nach mehr als fünf Minuten: "produit et realise par djibril diop mambety". Natürlich bleibt vieles davon in Erinnerung: spritzendes Blut im Schlachthaus etwa oder die auseinander rennende Menge auf der Flucht vor dem Motorrad. Aber es sind nicht die vordergründigen Explizitheiten, die die wirklichen Stärken dieser Sequenz ausmachen. 30 Jahre später wirkt die endlos gedehnte Szene mit den Rindern wie eine vorweggenommene Persiflage der Erwartungen eines Publikums, das sich unter Kino aus Westafrika nicht viel mehr als das stete Pendeln zwischen Bildern von Feldarbeit und solchen von streng formalen Diskussionen vorstellen, wo Junge darauf warten, dass Alte ihnen schlechte Ratschläge geben. Doch der Dorffilm, diese europäische Erwartung, dieses Klischee deutscher und französischer Redaktionsstuben, war ja noch gar nicht geboren. Ein wirklich großer Film lässt sich halt immer wieder neu lesen. Mory und seine Freundin Anta, die Studentin, heizen auf dem Motorrad durch Dakar, sie lassen keine Zweifel aufkommen, dass ihnen diese Stadt gehört. Sie lieben sich am Strand, weil das der richtige Ort für sie ist – und nicht etwa, weil ihnen kein anderer Ort bleibt. Mory und Anta sind ein Kinopaar, dessen Gesten und Blicke sich nach dem ersten Sehen für ein ganzes Kinoleben einprägen. Und selbst wenn die beiden Dakar verlassen, sehen ihre Bewegungen noch so großstädtisch aus, dass eine Steppe fern der Metropole vor ihrer Coolness geradezu bebt. Nie im afrikanischen Kino sind so selbstverständlich die Lässigkeit und die Arroganz der Jugend thematisiert worden. Eine Jugend, die einen Grund hatte, sich deutlich zu unterscheiden von den Alten, steckte dort immer in einem politischen Korsett. Wir reden also von Auflehnung als Folge einer sozialen Misere oder Bürgerkrieg aus Gründen noch dramatischerer Ungleichheiten. Jugend war im afrikanischen Kino – und ist es bis heute – immer nur eine Generation unter anderen in der steten Abfolge von Leben. Und so wurde sie dargestellt als störender Faktor, dessen Potential zugunsten bedingungsloser Einordnung klein gehalten werden muss. Djibril Diop Mambety bricht diesen Konsens des Gehorsams auf. "Touki Bouki" ist das Manifest für ein afrikanisches Kino, wie es nie eine Chance hatte zu sein. Dabei hatte Mambety nie "afrikanisches" Kino machen wollen, sondern – Kino. So steht dieser Film nicht einmal quer zu den Schulen des afrikanischen Kinos, zu den in den sozialistischen Ländern ausgebildeten Alten und den an zeitgenössischen Hochschulen auf Funktionalität gedrillten Jungen, sondern abseits, fern davon, nicht mal in Sichtweite. Diese Distanz meinte aber nie eine Entfernung von den Menschen Afrikas. Die Nähe zu den petits gens, den kleinen Leuten, war für Djibril Diop Mambety unbedingte Arbeitsgrundlage, er wusste, dass über Afrika zu reden heißt, über Armut zu reden. Und deshalb hat niemand so deutlich die Träume formulieren können, die die Menschen des Kontinents umtreiben. Die kleinen, die mit der Losbude zu tun haben, und die großen, die mit dem reichen Norden zu tun haben. Man muss "Touki Bouki" nicht sofort als den linear erzählten Film erkennen, der er eigentlich ist. Ein Paar beschließt, Stadt und Land zu verlassen. Da ihnen die dazu nötigen Mittel fehlen, besorgen sie sie sich auf Wegen, die allgemein als illegal gelten. Dann kaufen sie die Tickets für das große Schiff nach Marseille und erfüllen sich ihren Traum. Nun, so ist die Geschichte doch ein wenig vereinfacht, und auch mit einer kleinen Lücke versehen. Aber das Prinzip stimmt. Djibril Diop Mambety erzählt eine sehr knappe und einfache Story. Dass da einige Bilder aus ihrem chronologischen Kontext herausgelöst worden sind, betont eher den linearen Charakter. Und die Bedeutung des Schlachtens in der Eingangssequenz. Die Schlachthofszene spielt am Ende des Films wieder eine Rolle. Auf der Gangway haben sich Anta und Mory getrennt. Mory hat die Schritte bis aufs Schiff einfach nicht geschafft. Auf dem Deck unterhalten sich weiße Figuren über "die undankbaren Afrikaner" und kommen zu dem Schluss: "Ils sont des grands enfants..." Der Schnitt verweist auf den Schlachthof. Sicherlich kann man darin einen Hinweis auf das schwierige Verhältnis von Kolonisierenden und Kolonisierten erkennen, wie das der Filmwissenschaftler Frank Ukadike tut. Aber darin steckt auch die Erkenntnis, dass sich Menschen für jene Hölle entscheiden, die ihnen geläufig ist. Mory schreckt zurück vor der Ferne, die er idealisiert hat. Oder er erfüllt ein programmatisches "kümmer dich um Afrika", das Mambety seinem Protagonisten so hätte einflüstern können. "Touki Bouki" ist der spürbare Versuch, den stärksten Film zu machen, den die Welt je gesehen hatte. Ein Anspruch eigentlich, den jedes echte Stück Kunst zu erfüllen hat, wichtig zu sein und echt und bedeutend, auch in der Negierung dieser Haltung. Auf seine radikale Art hatte Djibril Diop Mambety nach seinem dritten Film seinen endgültigen Beitrag zum Kino geleistet, so nachdrücklich und unvergesslich wie Jean Vigo 40 Jahre früher. "Touki Bouki" wirkt immer noch wie eine Vision am Horizont. Kaum greifbar. Sich selbst immer wieder erneuernd. Größer als das Leben. Die sechzehn Jahre ohne neuen Film, die folgen sollten, erscheinen als Phase der Rekonvaleszenz nach einem totalen Akt der Schöpfung verhältnismäßig kurz. Text: Max Annas
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